Wann ist Trauer pathologisch?

Wie lange darf man eigentlich trauern, damit die Reaktion auf den Verlust als „normal“ eingestuft wird? Wie intensiv dürfen die emotionalen Reaktionen sein und die Sehnsucht nach dem verlorenen Menschen? Was ist, wenn eine emotionale Reaktion auf einen Verlust gar nicht stattfindet?

Trauer lässt sich nicht normieren, aber die Fachwelt ist sich einig, dass es eine komplizierte oder auch pathologische Trauer gibt. Ganz geht die Trauer nie, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Aber mit der Zeit schiebt sie sich mehr und mehr in den Hintergrund. Dann ist wieder Platz für den Alltag, für Freude und für Neues.Es ist aber auch normal, dass der Schmerz, Jahre später in einigen Momenten wieder aufflackern kann. Zum Beispiel am Todestag, an Geburtstagen, oder auch einfach nur zwischendurch im Alltag.

Der Trauerprozess dient dazu, uns an eine veränderte Lebenswirklichkeit anzupassen, die durch den Verlust von etwas entstanden ist. Der normale Trauerprozess wird durch eine Vielzahl individueller und kultureller Faktoren beeinflusst.Trauer kann entstehen durch den Verlust von Menschen, die uns durch den Tod genommen wurden, aber auch Trennungen betrauern wir oder den Verlust eines Tieres, einer Arbeitsstelle sowie den Verlust der Gesundheit oder Teile davon. Die Gründe sind vielfältig und der Trauerprozess ist zunächst nicht pathologisch, sondern ein Übergangszustand, zwischen dem Wissen etwas Geliebtes und Wichtiges verloren zu haben und der Akzeptanz dieses Verlustes. Es findet ein ständiger Wechsel mit rückwärts gerichteten Blicken und Neuorientierung in dem Trauerprozess statt. Die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen wird neu geordnet, der Abschied überdacht (evtl. muss dieser in einer speziellen Form nachgeholt werden) und gleichzeitig warten das normale Leben und der Alltag. Tod und Verlust sind in das eigene Leben eingebrochen und dies führt zur Beschäftigung mit dem eigenen Selbstkonzept und einem neuen Blick auf die Welt, das Leben und den Tod. Dieser Prozess ist ein Entwicklungsprozess und kann zu einer Stärkung der eigenen Bewältigungsfähigkeiten führen. Da ein Trauerprozess sehr individuell ist und es verschiedene Trauerphasenmodelle gibt, ist eine Abgrenzung von normaler zu pathologischer Trauer oftmals schwierig. Manche Menschen berichten sogar von dem Gefühl verrückt zu werden und selbst dies muß im Trauerprozess nicht pathologisch sein.

Die verschiedenen Phasen der Trauer-Modelle dienen als Anhaltspunkt und müssen nicht komplett und auch nicht in der strikten Reihenfolge ablaufen. Vielmehr ist es oftmals ein Vermischen von Phasen.

Das Modell von Kübler-Ross beschreibt fünf Trauer- oder auch Sterbephasen:

  • Nichtwahrhabenwollen, Leugnen, Verdrängung

  • Wut, Zorn, Schuldzuweisungen, Aggression (Gefühle werden gegen die verstorbenen Person oder Umwelt gerichtet)

  • Verhandeln, Schuldgefühle, Suchen nach Erleichterung der Gefühle

  • Depression, innere Leere, Empfindungslosigkeit, tiefe Trauer

  • Akzeptanz, Zustand der Resignation, Auseinandersetzung mit dem Verlust, Trauerarbeit ist noch im Gang, Tod ist Bestandteil des Lebens und Realität

Die vier Trauerphasen nach Verena Kast sind ähnlich:

  • Nicht-Wahr-haben-wollen

  • Aufbrechende Emotionen

  • Suchen und Sich-Trennen

  • Neuer Selbst- und Weltbezug

 

Die pathologische Trauer ist dadurch gekennzeichnet, dass die Entwicklung in den Phasen wenig bis gar nicht voranschreitet.

Die Intensität der Trauer nimmt mit der Zeit ab und der trauernden Person gelingt es, sich an die neuen Lebensumstände anzupassen und den Blick in die Zukunft zu richten. In dem Prozess kann auch eine fehlende oder verzögerte Trauer mit zu dem Bewältigungsprozess gehören. Verschiedene Faktoren wie die Bindung, die Todesumstände oder die Todesart können die Verarbeitung des Verlustes erschweren. Ein erlittenes Trauma, z. B. infolge eines Unfalles oder Überfalles der überlebenden Person kann den Trauerprozess stoppen. An diesem Punkt sollte erst mit einer Traumatherapie weitergearbeitet werden, bevor man sich wieder dem Trauerprozess zuwendet.

Psychische Folgen von Verlusten können zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder auch Essstörungen sein. Physisch besteht ein erhöhtes Risiko für hohen Blutdruck, Schlafmangel, erhöhten Kortisospiegel und Veränderungen im Immunsystem.

Die komplizierte Trauer ist als psychische Störung in den Klassifikationssystemen kontrovers diskutiert, aber zur Erfassung der pathologischen Trauer existiert ein Fragebogen (Inventory of Complicated Grief ICG), welcher die Trauer zu Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen abgrenzen kann. Eine komplizierte Trauerreaktion ähnelt jedoch nur auf den ersten Blick einer depressiven Episode. Die Unterschiede liegen in der Qualität des Affekts. Im Unterschied zur Depression dominiert in der komplizierten Trauer die tiefe Sehnsucht und Suche nach dem Verstorbenen und die Schwierigkeit das Leben ohne diese Person weiterzuführen oder den Tod zu akzeptieren. Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen leiden in der Regel unter Intrusionen, welche sich bei der komplizierten Trauer nicht finden, es sei denn, diese ist mit einem Trauma verknüpft.

Der pathologische Trauerverlauf birgt vermehrt Risiken für kardiovaskuläre Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen und Krebserkrankungen und erhöht das Suizidrisiko erheblich.

Eine psychotherapeutische Behandlung der Komorbidität führt an diesem Punkt nur zu einer geringen oder zu keiner Verbesserung der Symptomatik im anhaltenden Trauerprozess.

Trauer - ein individueller Prozess, der nicht genormt werden kann, sich aber pathologisch verändern kann.

Eine pathologische Trauerreaktion kann nach jedem Verlust auftreten, jedoch ist die Beziehung zum Verlust / zur verstorbenen Person von Bedeutung. Eine ambivalente Beziehung kann die Verarbeitung erschweren. Der schwerwiegendste Verlust ist der eines Kindes oder Partners. Soziale Isolation oder das Fehlen von sozialer Unterstützungtragen zur Anpassungsstörung bei. Von hoher Bedeutung sind auch die Todesumstände (unerwartet/erwartet, gewaltsam/nicht gewaltsam).

Wenn die diagnostischen Kriterien zu einer komplexen, anhaltenden Trauerstörung nicht erfüllt sind, ist eine Psychotherapie eher hinderlich und kontraindiziert. In einem normalen Trauerprozess wird der Verlust ohne therapeutische Hilfe bewältigt. Eine Unterstützung und Begleitung hingegen wird von vielen Trauernden als hilfreich angesehen, wenn in Gesprächen die Abfolge des Todes rekonstruiert wird und die Beziehung zu dem verstorbenen Menschen reflektiert wird. Sinnvoll kann auch eine Psychoedukation sein, um den Trauerprozess und die möglichen vielfältigen Emotionen und individuellen Unterschiede deutlich zu machen.

Komplizierte Trauer erkennen: Bis vor einigen Jahren sortierte man die komplizierte Trauer unter Depressionen ein und es wurde dem pathologischen Trauerverlauf keine gesonderte Beachtung geschenkt. Heutzutage wird die komplizierte Trauer zunehmend als eigenständige Symptomatik gesehen, die einer spezifischen Behandlung bedarf. Symptome wie anhaltende Sehnsucht, intensive Trauer mit seelischem Schmerz und ständiges Gedankenkreisen um die verstorbene Person können Hinweise auf komplizierte Trauer sein. Ebenso Gefühle des Schocks, der Benommenheit und der Gefühllosigkeit. Ein Empfinden von Sinnlosigkeit und nicht mehr leben wollen, um mit der verstorbenen Person zusammen zu sein, zählen ebenfalls zur anhaltenden schweren Trauer. Die Symptome variieren in Intensität und Trauer. Eine Bestimmung des Zeitraumes, wann man von einer pathologischen Trauer sprechen kann, ist nicht normiert oder festgelegt. Aber wenn auch nach mehr als sechs Monaten der Tod des oder der Angehörigen den Alltag bestimmt und die eigene Lebensführung signifikant einschränkt ist, kann von einer komplizierten Trauer ausgegangen werden.

Komplizierte Trauer behandeln: Die komplizierte Trauer jedoch bedarf sehr wohl einer spezifischen therapeutischen Intervention. Hier werden die Vermeidung von Verhalten in Bezug auf Orte, Gedanken, Aktivitäten im Zusammenhang mit der verstorbenen Person reduziert. Dysfunktionale Gedanken sowie Schuld- und Schamgefühle sind zentrale Bestandteile einer Therapie für pathologische Trauerverläufe.

Komplikationen, die den Trauerverlauf blockieren, müssen identifiziert undbearbeitet werden. Erfolg zeigen wöchentlich stattfindende Sitzungen mit bewältigungsorientierten Techniken zur Wiedererlangung einer gesunden Funktionsfähigkeit.

Die Entwicklung oder Wiederaufnahme von Lebenszielen und Aktivitäten dient der Anpassung an ein Leben ohne die verstorbene Person. Es wird ein Weg für den Umgang mit dem Verlust gesucht ohne dass Gefühle wie Wut, Schuld und Angst vorherrschend sind. Hier können Expositionsübungen, das Führen eines Trauertagebuches und das wiederholte Erzählen der Geschichte des Verlustes als Bestandteile der Therapie eingesetzt werden. Beim Psychodrama, einer Gruppentherapie, werden emotionale und zwischenmenschliche Konflikte, ähnlich eines Theaterstückes, in Szenen dargestellt und auf diese Weise bearbeitet. Im Rollenspiel werden die Situationen noch einmal erlebt. Dies hilft bei der Abarbeitung und Überwindung von Konflikten, welche die Trauerarbeit zum Stocken bringen können. Manchmal dient diese Technik auch zur Aufdeckung von Konflikten, wenn der Prozess still steht und der Betroffene zunächst nichts davon ahnt, was das Hindernis sein kann. Auch Selbstkonfrontation, kognitives Wiedererleben und Social sharing haben in Studien bei der Bewältigung von Verlusten gute Erfolge gezeigt.